auf basis der STUDIE IM AUFTRAG DES BUNDESMINISTERIUMS
FÜR WIRTSCHAFT UND ENERGIE (BMWI)
– erstellt von der innova eG

Handreichung aus dem Forschungsbericht
für politische Akteure, Kommunen
und kirchliche Organisationen

Genossenschaften:

Potenziale und Lösungsansätze für den ländlichen Raum

Die ländlichen Regionen stehen vor vielfältigen Herausforderungen: demografischer Wandel, Rückgang traditioneller Wirtschaftszweige und Abwanderung junger Menschen in die Städte. Diese Handreichung soll Kommunen, Kirchen und andere politische Entscheidungsträgern über das Potenzial und die Chancen von Bürgergenossenschaften informieren und ermutigen, diese Form der Bürgerbeteiligung zu unterstützen und mit ihnen zusammenzuarbeiten.
Bürgergenossenschaften sind eine vielfältige Möglichkeit für engagierte Bürger, aktiv an der Gestaltung ihrer Gemeinden mitzuwirken und die Lebensqualität vor Ort nachhaltig zu verbessern.

Bürger­genossenschaft:

Was versteht man darunter?

Bürgergenossenschaften sind demokratisch organisierte Unternehmen, bei denen die Mitglieder zugleich Eigentümer und gleichzeitig Nutzer sind. Gemeinschaftliche Mitbestimmung und gemeinschaftliches Handeln stehen im Mittelpunkt.
Die Mitglieder sind sowohl Nutzer der genossenschaftlichen Leistungen als auch Mitgestalter des Unternehmens.

Genossenschaften zeichnen sich durch 4 Hauptmerkmale aus

 

Förderprinzip

Es steht der Nutzen die Förderung der Mitglieder im Vordergrund, nicht die Kapitalvermehrung oder Gewinnausschüttung.

Demokratieprinzip

Ein Mensch – eine Stimme: gemeinschaftliches, demokratisches Handeln.

Identitätsprinzip

Das Mitglied ist Eigentümer/Träger und gleichzeitig Nutzer/Kunde.

Solidaritätsprinzip

ist ein zentraler Aspekt von Genossenschaften und steht für das gemeinschaftliche Handeln und die gegenseitige Unterstützung, um das Wohl aller zu fördern.
Das Solidaritätsprinzip zeigt sich auf zweierlei Weisen in Genossenschaften:

Ehrenamtliches Mitwirken:

um das Unternehmen freiwillig zu unterstützen, um Kosten zu reduzieren und die Gemeinschaft zu stärken.

 

Nichtbeteiligung am inneren Wert:

Bei einem Genossenschaftsausstieg erhält das ausscheidende Mitglied lediglich den ursprünglich gezahlten Anteilspreis zurück. Der anteilige Unternehmenswert, der sich durch die erfolgreiche Entwicklung der Genossenschaft
ergeben hat, bleibt als Solidarkapital in der Genossenschaft. Dieses Prinzip stellt sicher, dass der Wert, der durch das
gemeinsame Engagement aller Mitglieder geschaffen wurde, der Gemeinschaft erhalten bleibt und weiterhin zur Verwirklichung der Ziele verwendet werden kann.

Das Solidaritätsprinzip schafft Vertrauen und Zusammenhalt in der Genossenschaft. Es fördert das Bewusstsein dafür, dass jedes Mitglied einen wichtigen Beitrag zum Erfolg des Unternehmens leistet und dass alle Mitglieder von diesem Erfolg gleichermaßen profitieren. Durch die Solidarität unter den Mitgliedern können Genossenschaften langfristig und nachhaltig agieren und ihre Ziele zum Wohle aller verfolgen.

Bürger­genossenschaften

Aufbau und Merkmale

Genossenschaften können in verschiedenen (Rechts)Formen auftreten und sich auf unterschiedliche Geschäftsfelder konzentrieren oder sogar unter einem Dach (Allzweckgenossenschaften) in mehreren Geschäftsfelder aktiv sein. Zu den bekanntesten Bereichen gehören:

Energie

Bürgerinnen und Bürger investieren gemeinsam in erneuerbare Energien und gestalten die regionale Energieversorgung aktiv mit.

Soziales

Sie bieten soziale Dienstleistungen und tragen zur sozialen Integration in der Gemeinschaft bei.

Konsum

Bürgerinnen und Bürger schließen sich zusammen, um gemeinsam Produkte und Dienstleistungen einzukaufen und zu vertreiben.

Wohnungsbau

Ziel ist es, bezahlbaren Wohnraum für die Mitglieder zu schaffen und zu erhalten.

Kultur

Bürgerinnen und Bürger engagieren sich für kulturelle Projekte und Veranstaltungen in ihrer Region.

Regionalentwicklung

Eine recht junge Genossenschaftsform, die gezielt die Entwicklung und Stärkung einer bestimmten Region zum Ziel hat.

Merkmale von Genossenschaften

Genossenschaften zeichnen sich durch bestimmte Merkmale aus, die sie zu einer besonders wertvollen Organisationsform für den ländlichen Raum machen:

Gemeinwohlorientierung

Das oberste Ziel von Genossenschaften ist das Wohl ihrer Mitglieder und der Region, in der sie tätig sind.

Selbsthilfe und Selbstverantwortung

Genossenschaften beruhen auf dem Prinzip der Selbsthilfe, bei dem die Mitglieder gemeinsam ihre Bedürfnisse befriedigen und Verantwortung übernehmen.

Demokratie und Partizipation

Jedes Mitglied hat eine Stimme und kann aktiv an Entscheidungen und Prozessen teilhaben.

Mitgliederorientierung

Die Mitglieder stehen im Mittelpunkt aller Aktivitäten und die Genossenschaft dient ihren Interessen.

Genossenschaften:

Chancen für den ländlichen Raum

Bürgergenossenschaften haben eine bedeutende Rolle für die regionale Entwicklung eingenommen:

Beitrag zur Lebensqualität und Zukunftsfähigkeit der Region:

Bürgergenossenschaften tragen maßgeblich zur Attraktivität und Lebensqualität ländlicher Gebiete bei. Sie ermöglichen die Schaffung und den Erhalt von gemeinwohlorientierten Angeboten und Dienstleistungen, die sonst möglicherweise nicht oder nur unzureichend vorhanden wären.

Lokale Identitätsbildung:

Durch die aktive Beteiligung an Bürgergenossenschaften entwickeln die Mitglieder ein starkes Identitätsgefühl mit ihrer Gemeinde. Die Mitgestaltung des Lebensumfeldes stärkt die Verbundenheit mit dem Ort.

Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts:

Genossenschaften fördern das Miteinander und die Identifikation der Menschen mit ihrer Region. Indem sie Raum für kulturelle, soziale und wirtschaftliche Aktivitäten bieten, bereichern sie das Leben in der Region und schaffen Möglichkeiten für Begegnung, Austausch und Zusammenarbeit.

Wirtschaftliche Stabilität:

Bürgergenossenschaften können wirtschaftliche Impulse in der Region setzen und zur regionalen Wertschöpfung beitragen. Sie sind häufig langfristig orientiert und tragen zur Stabilisierung der Gemeindeökonomie bei.

Genossenschaften:

Herausforderungen und potenzielle Gefahren

Finanzielle Ressourcen

Bürgergenossenschaften stehen oft vor der Herausforderung, ausreichende finanzielle Mittel für ihre Projekte zu beschaffen. Die Gründung und der Betrieb von Genossenschaften erfordern Investitionen, die nicht immer leicht aufzubringen sind.

Fehlende Unterstützung

Bürgergenossenschaften können auf fehlende Unterstützung von staatlichen Institutionen, Banken oder anderen Kooperationspartnern stoßen, was ihre Entwicklung und Umsetzung von Projekten erschwert.

Akzeptanz und Widerstand

Nicht jeder in der Gemeinschaft mag die Idee einer Bürgergenossenschaft unterstützen. Es kann Widerstand von bestehenden Unternehmen oder politischen Entscheidungsträgern geben, die das Konzept nicht verstehen oder als Bedrohung für ihre Interessen betrachten.

Begrenzte Expertise

Die Gründungsmitglieder einer Bürgergenossenschaft verfügen möglicherweise nicht immer über das notwendige Fachwissen oder die Erfahrung in bestimmten Geschäfts­feldern, um das Projekt erfolgreich zu führen.

Mitgliederbindung und -partizipation

Die Motivation und das Engagement der Mitglieder können mit der Zeit nachlassen. Es ist wichtig, die Mitglieder aktiv einzubinden und eine langfristige Bindung zu gewährleisten, um den Erfolg der Genossenschaft sicherzustellen.

Bürokratie und Rechtsrahmen

Die Gründung und Verwaltung von Genossenschaften ist mit bürokratischen Hürden verbunden, insbesondere wenn es um Genehmigungen, Steuern und rechtliche Anforderungen geht. Ein komplexer Rechtsrahmen kann die Gründung und den Betrieb erschweren.

Wirtschaftliche Risiken

Bürgergenossenschaften können wirtschaftlichen Risiken ausgesetzt sein, insbesondere wenn sie in wirtschaftlich unsicheren Branchen tätig sind oder auf unsichere Finanzierungsmodelle setzen.

Konflikte und Entscheidungsfindung

In Genossenschaften kann es zu Meinungsverschieden­heiten und Konflikten kommen, insbesondere wenn es um Entscheidungen geht, die alle Mitglieder betreffen. Es ist wichtig, Mechanismen zur Konfliktlösung und demokratischen Entscheidungsfindung zu etablieren.

Diese Herausforderungen und Gefahren sind jedoch nicht unüberwindbar.
Durch eine gezielte Unterstützung, die Zusammenarbeit mit anderen Akteuren und eine transparente, demokratische Struktur können Bürgergenossenschaften diese Hindernisse erfolgreich bewältigen und ihr volles Potenzial für die ländliche Entwicklung entfalten.

Handlungs­empfehlungen:

zur Stärkung von Bürger­genossenschaften

Um das Potenzial von Genossenschaften im ländlichen Raum optimal zu nutzen, sind folgende Handlungsempfehlungen von großer Bedeutung:

  • Bereitstellung von Wissen und Bewusstseinsförderung
  • Unterstützung durch Beratung und finanzielle Förderung
  • Förderung von Netzwerken und Kooperationen
  • Öffentlichkeitsarbeit zur Steigerung der Akzeptanz
  • Aus- und Weiterbildung von Genossenschaftsmitgliedern und -verantwortlichen
  • Institutionalisierung durch genossenschaftliche Kompetenzzentren

Unterstützung und Kooperation

  • Informieren Sie Ihre Bürgerinnen und Bürger über das Konzept und die Möglichkeiten von Bürgergenossenschaften.
  • Organisieren Sie Informationsveranstaltungen und stellen Sie Informationsmaterialien bereit.
  • Ermöglichen Sie die Zusammenarbeit zwischen Bürgergenossenschaften und kommunalen Einrichtungen.
  • Gemeinsame Projekte und Initiativen können Synergien schaffen und das Gemeinwohl stärken.
  • Bieten Sie den Bürgergenossenschaften Beratung und Unterstützung bei der Gründung und im laufenden Betrieb an.
  • Fachliche Begleitung kann den Erfolg der Genossenschaften nachhaltig fördern.

Fazit

Genossenschaften sind eine vielversprechende Organisationsform für die ländliche Entwicklung und bieten zahlreiche Potenziale und Lösungsansätze.
Durch gezielte Unterstützung und Förderung können sie einen entscheidenden Beitrag zur Stärkung der Regionen leisten und den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern.

Die Zusammenarbeit von politischen Entscheidungsträgern, Kommunen und anderen Akteuren ist entscheidend, um das volle Potenzial von Genossenschaften für den ländlichen Raum zu entfalten und eine nachhaltige Entwicklung zu ermöglichen.

Die Studie verdeutlicht, dass das Interesse an den neuen bürgerschaftlichen Modellen groß ist und weiter zunehmen dürfte, um die Herausforderungen rund um die  Daseinsvorsorge im ländlichen Raum zu bewältigen.

Aufgrund ihrer rechtsformspezifischen Verfasstheit eignen sich Genossenschaften in besonderer Weise, neue Lösungsmöglichkeiten und Formen der Zusammenarbeit zwischen Bürgern und Kommunen zu entwickeln und zu erproben. Sie profilieren sich als weitere Gestaltungsvariante der lokalen Governance zwischen Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft.

Das freiwillige Engagement der Bürger kann allerdings nicht unbegrenzt adressiert und abgerufen werden. Deutlich wurde, dass hierfür förderliche und ermöglichende Rahmenbedingungen notwendig sind. Die Unterstützung und Beteiligung der Kommunen spielen dabei eine wichtige Rolle.

Zum Forschungsbericht:

Bürgergenossenschaften in den Neuen Ländern – engagiert für das Gemeinwesen

STUDIE IM AUFTRAG DES BUNDESMINISTERIUMS FÜR WIRTSCHAFT UND ENERGIE (BMWI)

erstellt von der innova eG Sept. 2021.
Die innova eG ist selbst als Genossenschaft organisiert und bietet Beratungen, Qualifizierungen und kleine Studien zu Bürgergenossenschaften professionell an.

“Die Studie zeigt das bemerkenswerte Potenzial von Bürgergenossenschaften für die Sicherung demokratischer Teilhabe, Strukturen regionaler Wirtschaft und Daseinsvorsorge sowie des sozialen Zusammenhalts insbesondere im ländlichen Raum der Neuen Länder. Zahlreiche Fallbeispiele aus den Bereichen Nahversorgung, Mobilität, Kultur und Nachbarschaftshilfe geben einen komprimierten Einblick in genossenschaftliches Engagement.
Die Studie wurde im Auftrag des BMWi erstellt und von der innova eG in Kooperation mit dem Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) Jena und dem Institut für Genossenschaftswesen der Humboldt-Universität Berlin umgesetzt.”

“Bürgerinnen und Bürger in ländlichen Gebieten schließen sich in Genossenschaften zusammen und organisieren wichtige Dienstleistungen in ihren Gemeinwesen. Diese Form der Selbsthilfe durch unternehmerisches Zivilengagement stellt einen oft noch zu wenig beachteten Beitrag zur Daseinsvorsorge im ländlichen Raum dar.
Einen guten Einblick zu den Chancen und Potenzialen von Bürgergenossenschaften und ihren besonderen Herausforderungen gibt die von der innova eG dazu im Jahr 2021 erstellte Studie. Sie wurde in Auftrag gegeben vom in der letzten Legislaturperiode am BMWi angesiedelten Arbeitsstab Neue Bundesländer.”